26.09.2022 // Allgemeine News

Geschlechtergerechte Normen

von Lea Leibundgut

Wer bei der Erarbeitung von Normen mitwirkt, vertritt nicht nur eine Branche und die Interessen eines Landes, sondern bringt auch die Sichtweise des eigenen Geschlechts in die Normung mit ein. Je nach Zusammensetzung eines Normenkomitees kann es passieren, dass Bedürfnisse der Abwesenden nicht berücksichtigt werden. In der Vergangenheit waren technische Normenkomitees fest in Männerhand. Daher sind die Bedürfnisse von Frauen, neben all den anspruchsvollen technischen Details und der Konsensfindung, teilweise nicht adressiert worden. Beim Gewinde einer Schraube ist Geschlechtergerechtigkeit irrelevant, aber beim Gewicht von Zementsäcken kommen die körperlichen Unterschiede im wahrsten Sinne des Wortes zum Tragen. Wie kann sichergestellt werden, dass die Anforderungen von Normen auch den Bedürfnissen der weiblichen Weltbevölkerung entsprechen?

Wer nicht partizipiert wird nicht gehört
Normen beeinflussen unseren Alltag, indem sie einheitliche Anforderungen an Produkte, Dienstleistungen und Technologien festlegen. Damit Normen unser aller Leben sicherer und einfacher machen, ist es wichtig, dass sie die Bedürfnisse möglichst vieler Menschen abdecken. In den meisten technischen Normengremien sind Frauen noch in der Minderheit. Dies mag der Tatsache geschuldet sein, dass Frauen häufiger Teilzeit arbeiten als Männer und somit öfters die Hauptbetreuung ihrer Kinder und Angehörigen übernehmen. Dies wiederum lässt sich schlecht mit der Reisetätigkeit vereinbaren, welche die Teilnahme an technischen Normenkomitee-Meetings mit sich bringt. Post-COVID haben die meisten Organisationen und Unternehmen ihre virtuelle Meeting-Infrastruktur verbessert, sodass künftig weniger gereist werden muss; eine Innovation, welche Teilzeitarbeitenden und kinderbetreuenden Personen zugutekommt.

Verschiedene Initiativen fördern geschlechtergerechte Normen
Die «Gender-Responsive Standards Initiative» der UNECE hat das Thema geschlechtergerechte Normen in den Fokus der Normungsgemeinschaft gerückt. Die UNECE-Deklaration hat das Ziel, den Normungsprozess und die entstehenden Normen geschlechtergerecht zu gestalten. Seit Mai 2019 wurde die Erklärung von ISO, IEC und 80 weiteren normenschaffenden Organisationen, darunter auch die SNV, unterzeichnet. Im Februar 2020 haben die Lenkungsgremien von ISO und IEC die «ISO/IEC Joint Strategic Advisory Group on Gender Responsive Standards» (JSAG) gegründet. Das Mandat der JSAG umfasst die Erarbeitung von Werkzeugen für ISO- und IEC-Normenkomitees, um sicherzustellen, dass Normen und deren Entwicklungsprozess geschlechtergerecht sind. Zudem ist die JSAG für die Erstellung des «ISO Gender Action Plan» verantwortlich. Auch die europäischen Normenorganisationen CEN und CENELEC haben ihrerseits einen Gender Action Plan verabschiedet.

Geschlechtergerechte Normen – Grundverständnis noch nicht vorhanden
Eine gemeinsame Umfrage von ISO und IEC zum Thema Geschlecht hat im Jahr 2020 gezeigt, dass das Grundverständnis und die Wertschätzung für geschlechtergerechte Normen in der technischen Gemeinschaft von ISO und IEC gering sind. Die JSAG hat erkannt, dass es einen Kulturwandel innerhalb der ISO- und IEC-Gemeinschaft benötigt, was ein langfristiges Unterfangen sein wird, begleitet von kontinuierlicher Anleitung, Förderung und Unterstützung. Wichtig sind insbesondere spezifische Instrumente zur Unterstützung und Entwicklung von geschlechtergerechten Normen.

Untersuchungen für die ungleiche Auswirkung von Normen auf die Geschlechter
Einige Normenorganisationen haben Untersuchungen durchgeführt, die zeigen, dass Normen unterschiedliche und bisweilen ungleiche Auswirkungen auf Frauen und Männer haben können und haben. Eine aktuelle Studie des «Standards Council of Canada» mit dem Titel "When One Size Does Not Protect All: Why Gender Matters in Standardization" (dt. Wenn eine Grösse nicht alle schützt: Warum das Geschlecht in der Normung eine Rolle spielt) liefert Beweise dafür, unter welchen Umständen Normen Frauen nicht so effizient schützen wie Männer. Wenn Normen nicht unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen Frauen und Männern entwickelt werden, kann dies zu einer höheren Verletzungsrate und negativen gesundheitlichen Auswirkungen bei Frauen führen. Dies zum Beispiel bei Autounfällen oder an Arbeitsplätzen, an denen persönliche Schutzausrüstung verwendet wird. Auch Männer können aufgrund von Geschlechterunterschieden diskriminiert werden: Farbenblindheit zum Beispiel kommt bei Männern deutlich häufiger vor als bei Frauen. Würde ein weiblich dominiertes Normenkomitee Farbcodes festlegen, welche gefährliche Substanzen nur mit Farben kennzeichnet, wären mehrheitlich Männer von der unzureichenden Kennzeichnung betroffen.

Was ist eine geschlechtergerechte Norm?
Nach Definition der JSAG ist eine geschlechtergerechte Norm eine Norm, die ein Verständnis für körperliche Unterschiede und Geschlechterrollen widerspiegelt und die Bedürfnisse von Frauen und Männern gleichermassen berücksichtigt. So hat eine IEC-Norm zur Sicherheit bei der Gefahrenabwehr von Photovoltaikanlagen (PV) unterschiedliche Körperwiderstandsdaten für Frauen und Männer bei der Berechnung des potenziellen Stroms, der durch den Körper fliessen könnte, berücksichtigt.

Wenn Normen auf Studien beruhen, die Frauen nicht mitdenken
Normen sollten auf den konsolidierten Ergebnissen von Wissenschaft, Technik und Erfahrung beruhen. Daher ziehen Normenschaffende, wo immer möglich, wissenschaftliche Daten als Grundlage für ihre Normungsarbeit heran. Viele wissenschaftliche Daten enthalten aber einen «Gender Data Gap» oder «Gender Data Bias». Das heisst, für die Studien wurden entweder nur männliche Teilnehmende berücksichtigt, die Fragen wurden aus einer männlichen Perspektive herausgestellt oder es wurden Annahmen getroffen, welche die Lebensrealität von Männern abbilden. Dies geschah nicht absichtlich, sondern aufgrund der Tatsache, dass Frauen schlicht vergessen wurden.

Sprachliche Repräsentation
Sprachen mit einem grammatikalischen Geschlecht wie die deutsche, französische und italienische Sprache kennen die Herausforderungen der sprachlichen Repräsentation beider Geschlechter. In der Schweiz sieht ein Beschluss des Bundesrats aus dem Jahre 1993 die Förderung der sprachlichen Gleichbehandlung von Frau und Mann in der Gesetzes- und Verwaltungssprache vor. Mit der Debatte rund um den «Gender-Stern» ist das Thema wieder auf dem politischen und gesellschaftlichen Parkett.
In den deutschen Übersetzungen von ISO- und CEN-Normen wurde bisher das generische Maskulinum verwendet. Deutschsprachige Normenorganisationen verfolgen den gesellschaftlichen Diskurs zur geschlechtergerechten Sprache und werden auch von Normenschaffenden mit der Frage konfrontiert, wie man als Normenkomitee nun eine geschlechterinklusive Norm schreibt. Die Frage der sprachlichen Inklusion ist noch nicht abschliessend geklärt. Darüber hinaus beschäftigt sich eine Task-Force der JSAG mit sprachlicher Inklusion im weiteren Sinne.

Design für Alle
Die Berücksichtigung der menschlichen Vielfalt über das Geschlecht hinaus ist der Ansatz des «Design für Alle»-Konzepts, welches die europäische Normenorganisation CEN-CENELEC für die Erarbeitung neuer und die Überarbeitung bestehender Normen propagiert. Dieser Ansatz soll den Nutzerkreis von Produkten, Waren und Dienstleistungen maximieren. Die entsprechende europäische Norm EN 17161 fokussiert auf Barrierefreiheit, wobei der Geschlechteraspekt nicht dezidiert thematisiert wird. Aufgrund der Tatsache, dass in der deutschen und französischen Übersetzung durchgehend vom Benutzer (generischer Maskulin), von Produkten, Waren und Dienstleistungen gesprochen wird, kann der Geschlechteraspekt schnell vergessen gehen. Nichtsdestotrotz ist der «Design für Alle»-Ansatz wichtig. So kann ein Werkzeug, für dessen Benutzung auch ältere Männer berücksichtigt wurden, die infolge des Alterungsprozesses an physischer Kraft einbüssen, auch für Frauen besser geeignet sein. Wird dann noch die unterschiedliche Grösse der Hände von Männern und Frauen bedacht, kann das Werkzeug von einer breiten Benutzergruppe verwendet werden.

UNECE-Ratschläge für Normenschaffende
Die UNECE wird Ende November 2022 an ihrer Jahrestagung praktische Ratschläge für Normenkomitees herausgeben, welche helfen, die Geschlechtergerechtigkeit von Normen zu verbessern. Eine Vorabversion dieser Leitlinien ist bereits verfügbar. Normenschaffende Organisationen wie ISO, CEN-CENELEC und auch die SNV werden ihre eigenen Leitfäden mit derjenigen der UNECE harmonisieren.

Ihr Mitwirken ist gefragt!
Möchten Sie für Ihr Fachthema die geschlechterspezifische Sichtweise bei der Entwicklung von internationalen Normen einbringen? Gerne helfen wir Ihnen, die für Ihren Wirtschaftssektor relevanten Normen zu identifizieren, sodass Sie dort die geschlechtergerechte Sichtweise miteinbringen können. Als SNV-Mitglied erhalten Sie Zugang zu den für Sie relevanten Normenkomitees der internationalen Normenorganisation ISO und der europäischen Normenorganisation CEN.

Ihr Ansprechpartner für weitere Informationen:
, Tel: +41 52 224 54 54

Ihre Ansprechpartnerin für eine SNV-Mitgliedschaft:
Birgit Kupferschmid, , Tel: +41 52 224 54 18

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