27.09.2021 // Neue Normen und Produkte

Weshalb ein Apfel nicht immer vegan ist

Eine Norm mit technischen Kriterien für Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die für Vegetarier oder Veganer geeignet sind

von Lea Leibundgut

Im Jahr 2018 hat der Lebensmittel- und Getränkekonzern Nestlé über die Schweizerische Normen-Vereinigung (SNV) ein Normenprojektantrag für eine ISO-Norm mit technischen Kriterien für Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die für Vegetarier oder Veganer geeignet sind, eingereicht. Im März dieses Jahres wurde die Norm publiziert. In einem Interview mit dem federführenden Experten Dominique Taeymans wird erklärt, welche Hürden bei der Erarbeitung der Norm genommen werden mussten, wie die Anwenderinnen und Anwender der Norm profitieren können und weshalb ein Apfel manchmal nicht vegan ist.

Die Schweizer Gesetzgebung kennt – anders als die EU – eine gesetzliche Definition von vegetarisch/vegan
Vegetarismus und Veganismus findet Anklang. Viele Menschen verzichten je länger je mehr auf tierische Produkte. Sei dies aus ethischer Überzeugung oder wegen dem Einfluss der Fleischproduktion auf den Klimawandel. So wundert es nicht, dass sich immer mehr vegetarische oder vegane Produkte in den Regalen der Lebensmittelhersteller finden. Ob ein Produkt vegetarisch oder vegan ist, kann vom Hersteller oder In-Verkehr-Bringer in der Schweiz freiwillig deklariert werden, das gilt auch in der europäischen Union (Verordnung EU Nr. 1169/2011). Erfolgt in der Schweiz eine freiwillige Deklaration der Lebensmittel als vegetarisch oder vegan, gilt es die in Artikel 40 der Verordnung des EDI betreffende Definition über Lebensmittel (LIV) zu berücksichtigen. In diesem Artikel ist umschrieben, was «vegetarisch», «ovo-vegetarisch», «lacto-vegetarisch» und «vegan» bedeutet.

Nach dem Gesetz schliesst der Begriff «Zutaten» Aromen, Lebensmittelzusatzstoffe und Lebensmittelenzyme mit ein. Beispielsweise ist Schellack ein für verschiedene Anwendungen zugelassener Zusatzstoff (E 904), der aus den Ausscheidungen von Lackschildläusen gewonnen wird. Bei der Ernte dieser harzartigen Substanz werden unweigerlich Tiere mitverarbeitet, somit ist Schellack ein weder veganer noch vegetarischer Lebensmittelzusatzstoff. Schellack wird als Glanz und Überzugsmittel von Kakao- und Schokoladeprodukte sowie sonstigen Süsswaren, Kaugummis aber auch von ganzem frischem Obst und Gemüse verwendet.

Somit kann ein auf den ersten Blick vegetarisches Produkt, wie Schokoladendragees oder ein veganes Produkt, wie ein Apfel doch nicht für Vegetarier und Veganer geeignet sein. Ohne entsprechende Deklaration müssen sich Konsumentinnen und Konsumenten selbst durch die Zutatenliste arbeiten. Manche verlassen sich daher auf Labels. Labels werden meist von privatrechtlichen Firmen vergeben. Hersteller können nach Abschluss einer Lizenzvereinbarung und Prüfung der Produkteangaben das entsprechende Label verwenden. Die Labelinhaber dürfen die gesetzlichen Anforderungen nicht unterschreiten, können aber die Anforderungen für die Vergabe höher setzen als die gesetzlichen Vorgaben. Ein bekanntes Label ist das V-Label, welches von der europäischen Vegetarier Union (EVU) initiiert wurde.

Auf europäischer Ebene ist der Begriff vegetarisch und vegan noch nicht rechtsverbindlich definiert. Im Jahr 2018 wurde bei der europäischen Kommission die Bürgerinitiative «Verpflichtende Kennzeichnung von Lebensmitteln als nichtvegetarisch/vegetarisch/vegan» registriert, jedoch kamen die benötigten Unterschriften nicht zusammen.

Die European Vegetarian Union setzt sich dafür ein, dass in der Lebensmitteinformationsverordnung EU Nr. 1169/2011 eine rechtsverbindliche Definition aufgenommen wird. Wo keine Gesetze existieren, kann der Markt auf Eigenregulierung durch nationale und internationale Normen zurückgreifen. So geschehen im Jahr 2018, als Nestlé bei der Schweizerischen Normen-Vereinigung (SNV) den Antrag für eine ISO-Norm rund um Definitionen und Kriterien für vegetarisch/vegane Lebensmittel und Lebensmittelzutaten einreichte. Nach Prüfung des Normenantrages wurde eine sogenannte Working Group (deutsch: Arbeitsgruppe) bei ISO gegründet. Diese wurde vom Experten Dominique Taeymans in der Rolle des Convenor geleitet. Zu seiner Rolle sagt er: «Meine Aufgabe als Convenor ist es, Bedingungen zu schaffen, die allen Experten die Möglichkeit geben, sich an der Diskussion zu beteiligen.» Interessierte Expertinnen und Experten aus aller Welt konnten sich über ihre nationalen Normenorganisationen aktiv an den Arbeiten rund um diese Norm einbringen. So nahmen neben Lebensmittelherstellern auch Vertreterinnen und Vertreter von vegetarisch und veganen Interessensgemeinschaften an der Normungsarbeit teil, unter anderem der Schweizer Experte Renato Pichler, Präsident & Geschäftsführer von swissveg sowie Vorstandsmitglied der europäischen Vegetarier Union. Der fertige Entwurf musste schlussendlich wie alle ISO-Normen von einer 2/3-Mehrheit der partizipierenden ISO-Mitglieder angenommen werden. Die Norm wurde mit 41 zustimmenden und 2 ablehnenden Stimmen bei ISO angenommen; das ist ein gutes Ergebnis für ein umstrittenes Thema. Auf die Frage, ob er das gute Resultat erwartet hat, antwortet Dominique Taeymans: «Als Convenor habe ich immer darauf hingearbeitet, einen Konsens in der Arbeitsgruppe herzustellen und zu erreichen. Ich nehme an, dass sich dies in der fast einstimmigen Abstimmung widerspiegelt.» Bedenkt man, dass die Norm auch die Thematik der Tierversuche für Lebensmittelzutaten adressiert, ist das definitiv ein gutes Resultat! Tierversuche für Lebensmittelzutaten war dann auch das schwierigste resp. kontroverseste Thema. Zu diesem Thema gab es die grössten Meinungsverschiedenheiten. Dazu sagt der Convenor: «Tierversuche sind potenziell eine emotionale Diskussion! Die Gegner haben gute Argumente. Ich bin nicht dafür, ich bin nicht dagegen, aber solange die Vorschriften Tierversuche vorschreiben, können wir mit einer ISO-Norm nicht viel ausrichten».

Auf die Frage, wie die teilweise gesetzlich vorgeschriebenen Tierversuche in der Norm behandelt werden können, erklärt Dominique Taeymans: «Tierversuche werden heute mehr und mehr kontrolliert, und das zu Recht, aber es gibt derzeit keine Alternative, um die Sicherheit von Lebensmitteln zu testen. Wissenschaftler arbeiteten an alternativen Methoden, und ich bin sicher, dass in Zukunft Lösungen gefunden werden, um Tierversuche weiter einzuschränken. Lassen Sie uns zuversichtlich in die Zukunft blicken.»

Diesen März, nach etwas über 2 Jahren Entwicklungszeit, wurde die Norm ISO 23662 – Definitionen und technische Kriterien für Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die für Vegetarier oder Veganer geeignet sind, sowie für die Kennzeichnung und Angaben veröffentlicht. Zweck der Norm ist es, die technischen Kriterien für Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die für Vegetarier oder Veganer geeignet sind, bereitzustellen. Dominique Taeymans erklärt: «Diese Norm hat einen internationalen Geltungsbereich und wird daher dazu beitragen, allen Lebensmittelherstellern, die vegane und vegetarische Lebensmittel verkaufen, eine internationale Orientierung zu geben. Die Verbraucher werden hoffentlich auch von der korrekten Anwendung der Norm profitieren und darauf vertrauen können.» Ähnlich wie die Schweizer LIV, unterteilt die Norm in Ovo-Lacto-, Ovo- und Lacto-Vegetarier/innen. Die Zielgruppe der Norm ist die globale Lebensmittel- und Getränkeindustrie. Mit einer internationalen Norm sollen einheitliche technische Kriterien sowie Lebensmittelkennzeichnung und -angaben vereinheitlicht werden. Dominique Taeymans ergänzt: «Die Anwendung der ISO-Normen ist freiwillig. Ziel ist es, dass diese ISO-Norm, wo keine spezifischen, nationalen Vorschriften existieren, Hilfestellung bietet.»

Akteure, die nach der Norm arbeiten, tragen zu gleichen Wettbewerbsbedingungen, fairen Praktiken in Geschäftsbeziehungen und im internationalen Handel bei, indem sie sich an die Kriterien der Norm, bei der Kennzeichnung von Lebensmitteln und auch den dazugehörigen Angaben halten. Natürlich entbindet das Einhalten der Norm die Lebensmittel- und Getränkehersteller nicht von der Pflicht sich über die national geltenden Gesetze zu informieren und wo im Wiederspruch zur Norm stehend, die nationalen Gesetze einzuhalten. Gerade vor dem Hintergrund der fehlenden Definition von vegetarisch/vegan in der europäischen Gesetzgebung sagt der Vertreter, der vegetarisch und vegan lebenden Menschen in der Schweiz und der EU, Renato Pichler: «Ich bin froh, dass es von der ISO nun eine internationale Definition der Worte vegan und vegetarisch gibt. Damit hat der schnell wachsende Markt an vegetarischen und veganen Lebensmitteln eine einheitlich definierte Basis. Dies ergänzt das etablierte V-Label.»

Der Convenor Dominique Taeymans freut sich über das erreiche Ziel; eine Norm, der eine grosse Mehrheit der beteiligten Expertinnen und Experten zustimmen konnten. Auf die Frage was ein guter Convenor, der zweifelsfrei einen wichtigen Beitrag zum Erfolg einer Norm leistet, mitbringen muss, sagt er: «Ich denke, dass es wichtig ist, ein guter Zuhörer zu sein und allen Beiträgen mit Respekt zu begegnen. Gleichzeitig muss man Fortschritte machen, um das Endergebnis zu erreichen. Kurz: Ausdauer, Konsequenz und Entschlossenheit.»

Wollen Sie künftige Normen im Bereich Lebensmittel mitgestalten? Als SNV-Expertin oder SNV-Experte des nationalen Normenkomitees INB/NK 0172 «Food products» haben Sie Zugang zu den Lebensmittel-Normenkomitees der europäischen Normenorganisation CEN und der internationalen Normenorganisation ISO und können über deren Normenentwürfe abstimmen oder diese kommentieren. Möchten Sie selbst aktiv werden und an Normenentwürfen mitschreiben? Als SNV-Expertin oder SNV-Experte erhalten Sie Zugang zu den entsprechenden Arbeitsgruppen der ISO und CEN.

Ihr Ansprechpartner für weitere Informationen:
, Tel: +41 52 224 54 54

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