SNV-Story #10: Wenn sich Konstrukteure mit Biberhaar beschäftigen

Das Titelbild der Geschichte verwirrt Sie etwas? Unsere Empfehlung: einfach weiterlesen und die Lösung des Rätsels erfahren. Starten wir am Anfang. Wir haben für diese Story mit dem Berufsbildner René Gabriel von der Technischen Fachschule in Bern gesprochen. Er bildet Lernende im Berufsbild Konstrukteur mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (EFZ) aus. Viele der jungen Berufseinsteiger realisieren erst bei Ausbildungsbeginn, wie normenlastig ihr gewählter Beruf in Wirklichkeit ist. Dass deshalb der Wissenstransfer langweilig sein muss, ist eine falsche Schlussfolgerung. Wir zeichnen den Spannungsbogen zwischen Theorie und Praxis unter anderem am Beispiel einer «Biberhaarfalle» auf.

Eine gute Vorstellungskraft ist ein idealer Begleiter
Für Konstrukteure ist eine gute Vorstellungskraft unabdingbar. Sei es, dass sie sich hinter einer 2D-Zeichnung bereits ein fertiges Element vorstellen können oder hinter einer Fragestellung bereits eine Lösung. Im Bereich des Normungswissens gilt es diese Fähigkeit ebenfalls auszubilden. Anfänglich ist es noch schwierig, im Normenwald die Zusammenhänge und vor allem die Tragweite der Normen zu erkennen. Doch genau darum geht es. «Ich habe einen Normenband, den ich jeweils als Einführung in das Thema zur Hilfe nehme. Dazu frage ich die Lernenden, zu welchem Thema sie etwas wissen möchten. Egal, ob sich jemand etwas zum Coiffeurberuf, zu einem Kinderspielplatz oder zu einer Sonnenbrille wünscht. In diesem Buch findet man zu allem Möglichen verschiedene Normen. Das ist ein erster Augenöffner und die angehenden Konstrukteure beginnen zu begreifen, wie umfassend die Normungswelt ist», klärt René Gabriel auf, «bereits in den ersten 14 Tagen der Ausbildung tauchen wir dann gemeinsam in den Normen-Auszug ein.»

Ohne Normen gibt es nicht
Je intensiver sich die Lernenden mit der Konstruktion auseinandersetzen, desto mehr kommen Normen zum Zug. Dabei liegt der Fokus der Ausbildung vor allem darauf, dass die Konstrukteure und Konstrukteurinnen wissen, wo sie was nachschauen können und wie sie Normen lesen müssen. «Mit den Normen verhält es sich ähnlich wie mit Kopfrechnen. Man muss den Inhalt der Normen nicht auswendig können, aber es hilft im Alltag doch, wenn man es kann. Zumindest die wichtigsten.» Der physische Normen-Auszug der Schweizerischen Normen-Vereinigung (SNV) spielt täglich eine tragende Rolle. Er ist optimal für das Grundlagenwissen und hilft, Zusammenhänge zu erkennen. Zudem kann er mit Notizen oder Markierungen personalisiert werden und ist immer zur Hand. «Der aktuelle Normen-Auszug hat rund 90 Seiten mehr als sein Vorgänger und fordert mich als Berufsbildner, einen Spagat zu machen, welche Normen ich vermittle und für welche schlicht die Zeit fehlt.» Je lebendiger wir die Normenvielfalt präsentieren, umso besser verstehen sie die Anwender. Um seinen Lernenden aufzuzeigen, wie viele Normen bereits bei einer einfacheren Zeichnung involviert sind, hat René Gabriel eine solche plakativ beschriftet und durchgezählt. Stattliche 40 Normen wenden die Lernenden beim Erstellen der Fertigungszeichnung des abgebildeten Gehäuses an. Ein Schaubild, das bei den Lernenden im 1. Ausbildungsjahr zweifellos Eindruck hinterlässt.

Rund 40 Normen kommen bereits in dieser einfacheren «älteren» Zeichnung, ohne Berücksichtigung der ISO-GPS-Normen, eines Gehäuses zur Anwendung.

Rund 40 Normen kommen bereits in dieser einfacheren «älteren» Zeichnung, ohne Berücksichtigung der ISO-GPS-Normen, eines Gehäuses zur Anwendung.

Normen erlebbar machen
«Ist halt genormt» ist keine Antwort, die man von René Gabriel hört. Für ihn ist wichtig, dass die Lernenden die Norm verstehen und die Tragweite dahinter immer besser abschätzen können. Wer hinter der «Technischen Fachschule» eine klassische Schule mit Lehrern und viel Frontalunterricht erwartet, liegt falsch. Die Technische Fachschule ist umgänglich gesprochen ein Lehrbetrieb und die Berufsbildner die früheren Lehrmeister. Einzigartig ist das 3-1-Modell, wie es hier gelehrt wird. In den ersten drei Jahren absolvieren die Lernenden die praktische und fachtheoretische Ausbildung. Im vierten Ausbildungsjahr sind sie Vollzeit an einer Berufsmaturitätsschule. René Gabriel betreut pro Lehrjahr drei Auszubildende. Eine bunte Mischung mit jeweils unterschiedlichem Wissensstand, Nationalität und Geschlecht. Für jeden Jahrgang hat er ein eigenes Büro eingerichtet, das seine persönliche Handschrift trägt. «Mir ist wichtig, dass sich die Lernenden hier wohlfühlen und eine inspirierende Umgebung antreffen», betont René Gabriel. Da die Technische Fachschule keine eigenen Produkte herstellt, ist sie auf externe Kundenaufträge angewiesen. Zahlreiche knifflige und spannende Anfragen landen in Bern, denn den Unternehmen in der freien Wirtschaft fehlt im hektischen Alltag häufig der Freiraum, um Neues und Kreatives entstehen zu lassen.

Einmal Haarprobe bitte
Und so kam eines Tages auch der Anruf der Universität Neuenburg, genauer gesagt von der Biberfachstelle des Bundesamtes für Umwelt. Sie hatte eine Studie zur genetischen Vielfalt des Bibers durchgeführt. Dafür sind Gewebeproben von toten Bibern – meist von überfahrenen Tieren – verwendet worden. Damit in Zukunft ganz gezielt lebende Tiere «beprobt» werden können, suchte die Biberfachstelle nach einer Möglichkeit an Zellen zu kommen, ohne die Tiere einfangen zu müssen. Die Analysen macht man anhand der DNA, die in jeder Körperzelle vorhanden ist, auch in den Haarwurzeln. Damit die Laborresultate verwertbar sind, muss das Haar der Biber also mitsamt der Wurzel ausgerissen werden. Bis anhin arbeiteten alle Forschungsgruppen weltweit mit Stacheldraht, an dem sich der Biber beim Durchschlüpfen selbst striegelte. Wenn mehrere Biber ihr Haar am Stacheldraht zurücklassen, werden die DNA-Proben jedoch vermischt und die Laboranalysen sind unbrauchbar – dies bei Kosten von rund CHF 500 pro Analyse. Für dieses Problem sollte nun die Technische Fachschule eine Lösung finden. Eine Konstruktion, die im Zusammenhang mit einer Kameraüberwachung eine eindeutige Zuweisung der ausgerupften Haare zu einem Biber garantiert. Eine Biberhaarfalle muss her.

Normen bereits in der ersten Handzeichnung
Solche Aufträge sind ein Glücksfall, um den Lernenden den genormten Prozess einer Entwicklung aufzuzeigen. Zuerst ist man konzeptionell unterwegs, lernt Gesprächsprotokolle zu schreiben und sich so auszudrücken, dass alle am Projekt beteiligten Personen dasselbe verstehen. Dann folgen erste Handzeichnungen, in welchen bereits erste Normen involviert sind. Denn unterschiedliche Linienstärken bedeuten Unterschiedliches. Die Beschriftung erfolgt nicht in der Handschrift, sondern in der Normschrift. Die Dokumentation über den gesamten Prozess ist genormt und füllt beim Projekt Biberhaarfalle einen ganzen Bundesordner. Es sind Fragen zu beantworten wie: «Welche Bürste verwende ich, um dem Biber die Haare auszureissen? Zahnbürste? Grillbürste? Eigens entwickelte Bürsten?» Für den Konstrukteur ist es wichtig, die spätere Funktion genau zu verstehen, um die beste Lösung vorzuschlagen. Und hier schlägt sich eine Brücke zur Norm. Nur wer das Normungswesen versteht, kann die Normen korrekt anwenden. René Gabriel lässt seinen Lernenden am Anfang bewusst freie Hand und nimmt in Kauf, dass Fehler gemacht werden. Diese werden später gemeinsam analysiert und Schritt für Schritt aufgezeigt, welche Normen vergessen oder nicht korrekt angewendet wurden. So erreicht man den besten Lerneffekt. «Leben, umsetzen, erklären, zeigen, machen», das ist in René Gabriels Verständnis der beste Weg, um die Jugendlichen mit all den Normen vertraut zu machen und ihnen den Sinn dahinter aufzuzeigen.

Bereits die erste Handskizze enthält Normelemente und ist fein säuberlich mit der Normenschrift versehen.

Bereits die erste Handskizze enthält Normelemente und ist fein säuberlich mit der Normenschrift versehen.

Der Polymechaniker in der Werkstatt erhält die finale Zeichnung erst, wenn sie normentechnisch lupenrein ist.

Der Polymechaniker in der Werkstatt erhält die finale Zeichnung erst, wenn sie normentechnisch lupenrein ist.

Schnittstelle Theorie und Praxis
Dank dieser praktischen und abwechslungsreichen Ausbildung ist es für die Konstrukteure später einfacher, in einem Betrieb Fuss zu fassen. Auch wenn es dort zusätzlich betriebsinterne Abläufe, Regeln und Verhaltensweisen zu erlernen gibt, sind sie doch bestens gerüstet, sich mit ihrem Wissen einzubringen. «Ein Graben zwischen Theorie und Praxis kann entstehen, wenn der Konstrukteur auf den Polymechaniker trifft. Die zwei Berufsbilder sprechen gelegentlich unterschiedliche Sprachen. So reklamiert dann der Polymechaniker die schlechte Zeichnung des Konstrukteurs oder der Konstrukteur ist umgekehrt mit der toleranzbehafteten Herstellung der Teile durch den Polymechaniker unzufrieden. In diesen Fällen gibt es nur eine Lösung – aufeinander zugehen und die Sichtweise des anderen verstehen lernen», weiss René Gabriel aus der Praxis zu erzählen. Er kennt als gelernter Mechaniker und heutiger Berufsbildner der Konstrukteure schliesslich beide Seiten und weiss sie optimal zu balancieren.

Wissen, was ich suchen muss
Die heutigen Auszubildenden sind mit dem Internet gross geworden. Eine Welt ohne das Netz ist für sie unvorstellbar. Dennoch basiert die Ausbildung stark auf analogen Hilfsmitteln. René Gabriel hat für seine Lernenden eine Konstruktionswand gebaut, welche die wichtigsten Bücher, Nachschlagewerke oder auch Anschauungsbeispiele enthält. Ist das nicht ein alter Zopf? Findet man all die Sachen nicht auch im Internet? Klar, die meisten schon. Doch die Schwierigkeit für die Konstrukteure am Anfang ihrer Berufslaufbahn ist, dass sie nicht wissen, wonach sie suchen sollen. Die Fachsprache muss zuerst erlernt werden. Kennt man beispielsweise das Wort «Gewindefreistich» nicht, findet man auch im Internet nie die passende Norm dazu. Deshalb sind Nachschlagewerke wie der Normen-Auszug aus der Ausbildung nicht wegzudenken. Zudem hilft er dabei, Grundlagen in der eigenen Sprache zu erlernen. Werden später im Berufsalltag Themen spezifischer, ist häufig nur noch Normenwissen in englischer Sprache auffindbar.

Zugang zu Wissen besser erschliessen
Was ebenfalls mühselig oder letztlich gar nicht zu finden ist, sind Einkaufsteile, die jemand bereits irgendwo auf der Welt konstruiert und entwickelt hat. Man muss das Rad nicht neu erfinden. Doch weiss man nicht, was man nicht weiss, kann man nicht danach suchen. René Gabriel wünscht sich für seine Auszubildenden, dass in Zukunft künstliche Intelligenz mithelfen kann, diesen Wissensschatz im Internet benutzerfreundlich und intuitiv zu präsentieren. Sozusagen seine Konstruktionswand ins digitale Zeitalter zu bringen. Erreicht man das Ziel, wird der Beruf des Konstrukteurs noch zukunftsfähiger werden, davon ist unser Interviewpartner überzeugt.

Bildnachweis
Biberbild – Biberfachstelle des Bundesamtes für Umwelt
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René Gabriel

Er ist Berufsbildner an der Technischen Fachschule in Bern. Diese ist zugleich Lehrbetrieb und Berufsfachschule für zahlreiche Berufsbilder. 2019 wurde die Technische Fachschule Bern von Swiss Olympic mit dem Qualitätslabel Swiss Olympic Partner School ausgezeichnet. Sie ist die erste gewerblich-industrielle Vollzeit-Berufsschule der Schweiz, die dieses Label erhalten hat. René Gabriel hat seine berufliche Laufbahn als Mechaniker gestartet und ist über diverse Stationen wie die Ausbildung zum Konstrukteur (damals noch eine 2½-jährige Zusatzausbildung) und dem Maschinentechniker TS an die Technische Fachschule gekommen, wo er seit 2000 Konstrukteurinnen und Konstrukteure EFZ ausbildet.

Er ist Berufsbildner an der Technischen Fachschule in Bern. Diese ist zugleich Lehrbetrieb und Berufsfachschule für zahlreiche Berufsbilder.

René Gabriel

Er ist Berufsbildner an der Technischen Fachschule in Bern. Diese ist zugleich Lehrbetrieb und Berufsfachschule für zahlreiche Berufsbilder.

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