SNV-Story #2: Normen und Gender im Design

Niemanden ausschliessen – die Welt ist bunt

Was haben ein Zementsack, stereotype Kinderzimmer und Unisex-Toiletten gemeinsam? Sie alle dienten Natascha Hess als Inspiration und Motivation für ihre Bachelorarbeit an der Fachhochschule für Gestaltung und Kunst in Basel. Auto-Crashtest-Dummies, persönliche Schutzausrüstung, Navigationssysteme, die Grösse von Mobiltelefonen oder Handwerkzeug – alle Objekte sind heute nicht geschlechtsneutral. «Normen und Gender im Design» zeigt auf, wie sich der Gender-Data-Gap in Normen und Standards und auf die Gestaltung von Produkten auswirkt. Die Arbeit wurde nicht mit dem Zeigefinger, sondern mit einer ausgestreckten Hand geschrieben.

Natascha Hess bezeichnet sich als Gerechtigkeitsmensch. Werden irgendwo Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen ausgeschlossen, kann sie nicht wegsehen und muss geradezu aktiv werden. Zum Design hat sie nach einer Lehre als Steinbildhauerin und dem Abschluss der Berufsmatura gefunden. Nach ihrem Studium in Produkt- und Industriedesign absolviert sie aktuell ein Praktikum in Produktdesign und Signaletik. Natascha Hess hat mit uns gesprochen und gewährte uns Einblicke in ihre Bachelorarbeit.

Drei Orte – drei Einsichten
Das Thema Normen ist bei Natascha Hess zum ersten Mal während der Lehre aufgetaucht. Und zwar im Zusammenhang mit dem Gewicht der Zementsäcke. Diese sind in der Branche seit 1999 aufgrund des Gesundheitsschutzes auf 25 Kilo und nicht mehr wie vorher auf 50 Kilo standardisiert. Dies ist jedoch für Frauen auf die Dauer nach wie vor ein Kraftakt. Interessanterweise gibt es hier sogar schon eine geschlechterspezifische Richtlinie für Frauen, die bei 15 Kilos liegt – nur die Industrie wendet sie bisher nicht an. Ein erster Grund für Natascha Hess, sich mit Körpernormen auseinanderzusetzen.
Von der Lehr- in die Uni-Zeit: Das Ingvar Kamprad Designcentrum an der Universität in Lund. In dieser schwedischen Studentenstadt absolviert Natascha Hess einen Austausch und kommt dort mit «Universal Design» (one size fits all) und «Inclusive Design» (one size fits one) in Berührung. Designansätze, die sich mit der Gleichberechtigung beschäftigen und sie aus dem Schweizer Studium so nicht kannte. Beispiele für «Design for all» ist eine Begegnungszone, die alle nutzen können und die niemand aufgrund des Geschlechts, Alters, der physischen oder psychischen Gesundheit einschränkt. Beispiele für «Inclusive Design» sind variantenreiche Produkte, die individuell verstellbar oder mit modular aufgebaut sind. Dass die Schweden diesen Designgedanken auch in der Praxis anwenden, zeigt sich beispielsweise bei den Toiletten, die es im gesamten Studentenstädtchen ausschliesslich als Unisex-Variante gibt.
Vom Campus ins Museum: Die faszinierende Ausstellung «Geschlecht jetzt entdecken» im Stapferhaus in Lenzburg lädt dazu ein, sich auf spielerische Weise mit der Frage «Was ist eigentlich Geschlecht» zu beschäftigen. Basierend auf diesen persönlichen Erfahrungen war für Natascha Hess klar, worüber sie in ihrer Bachelorarbeit schreiben möchte – über ein Design, das niemanden ausschliesst.

«Ask a hundred people what inclusion means and you’ll get a hundred
different answers. Ask them what it means to be excluded and the answer will
be uniformly clear: It’s when you’re left out. (Holmes, 2018, S. 4)»

Die Schweiz und die Körpernormen
Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Autohersteller. Auf welche Körpernormen designen Sie Ihr Fahrzeug? Die Chance ist gross, dass das Auto auf die Durchschnittswerte eines Mannes gestaltet wird und so variabel ist, dass es auch auf die Frau (= kleiner Mann gemäss häufig angewendeter Definition) eingestellt werden kann. Noch immer gibt es für die Automobilindustrie keinen «Crash Test Dummy», welcher die Körpereigenschaften einer Frau korrekt wiedergibt. So repräsentiert der weibliche Hybrid-III Dummy mit einer Körpergrösse von 152 cm und einem Körpergewicht von 54 kg nur sehr wenige Frauen! Die Folgen? Natascha Hess zitiert eine amerikanische Studie:

«Laut einer Studie der University of Virginia’s Center for Applied Biomechanics liegt
das Risiko einer schweren Verletzung bei einem Autounfall bei Frauen um 47%
höher als bei Männern, obwohl diese häufiger in Autounfälle verwickelt sind. Bei
mittelschweren Unfällen ist das Risiko sogar um 71% höher. (Shaver, 2012) Auch
die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen bei einem Autounfall sterben ist um 17%
höher als bei Männern. (NHTA, 2013)»

Die Zahlen aus den USA schockieren. Doch wie sehen sie in der Schweiz aus? Die schlichte und ehrliche Antwort ist, man weiss es nicht. Dies liegt nicht an der Quantität der gesammelten Daten, sondern an der Qualität. In den Daten, die die SUVA zur Erstellung der Unfallstatistik erhält, spielt der Aspekt Mann/Frau entweder keine Rolle oder die Verschlüsselung der Daten zwecks Schutzes der Privatsphäre lässt keine Rückschlüsse zu. Ein klarer Appell von Natascha Hess, dass mehr Daten geschlechtergetrennt gesammelt werden.

Norma – der typische weibliche Körper
Dass die Durchschnittsrechnung so ihre Tücken hat, weiss man schon länger. Ein eindrückliches Beispiel zeigt Natascha Hess in ihrer Arbeit auf.

«Dr. Robert L. Dickinson und sein Kollaborateur Abram Belskie haben die Daten von
15 000 jungen erwachsenen Frauen gemessen und mit den Durchschnittszahlen
«Norma» erschaffen, die Frau mit dem typischen weiblichen Körperbau oder
anders gesagt: Die «normale» amerikanische Frau. Bei einem Lookalike-Kontest in
Cleveland 1945 konnten Frauen gegeneinander antreten, wer Norma am
ähnlichsten ist. Das Resultat war jedoch alles andere als erwartet: Keine der
teilgenommenen Frauen entsprach den Durchschnittsmassen von Norma. (Rose,
2016, S. 5-7) … Die meisten Ärzte und Wissenschaftler dieser Zeit interpretierten dasResultat
jedoch anders: Sie kamen zum Schluss, dass die amerikanischen Frauen sich
ungesund ernähren und eine schlechte Figur hätten. (Rose, 2016, S. 7-8)»

Für die Definition der Kleidergrössen werden heute ISO-Normen herbeigezogen, zum Beispiel die SN EN ISO 8559-1 und -2. Dass eine 36, 38 oder 40 bei unterschiedlichen Marken jedoch auch sehr unterschiedlich ausfallen kann, hat mehr mit Psychologie und der Marketingstrategie zu tun als mit der zu Grunde liegenden Norm.

Geschlechtsneutral ist es dann, wenn man es gar nicht sieht
Körpernormen sind nur ein Puzzlestein auf dem Weg zu einem Design, das alle einschliesst. Umfassende Nutzungsdaten, Bedürfnisanalysen für die unterschiedlichen Zielgruppen sowie kritische Kommentare von Konsumentinnen und Konsumenten sind wichtige Elemente. Die Küche ist ein Ort, wo heute schon für viele designt wird. Menschen lieben es zu kochen und darüber zu sprechen. So gibt es beispielsweise Küchenkombinationen, die in der Höhe verstellbar sind, Messer für Linkshänderinnen und Linkshänder oder Produkte für Menschen mit speziellen Bedürfnissen – wie Gummigriffe für einen besseren Griff, Messer mit ergonomischen Griffen oder Kochutensilien für Kinder.

Am Objekt selbst muss man gar nicht erkennen, dass es optimal für alle designt wurde. «Etwas ist dann geschlechtsneutral, wenn man es gar nicht bemerkt», betont Natascha Hess. Als Beispiel nennt sie Kleiderstangen, die man ohne Kraftaufwand herunterziehen kann. Ideal für alle, die weniger Kraft haben, kleiner sind, im Rollstuhl sitzen oder sich im Alter nicht mehr schmerzfrei strecken können. Das kleine Beispiel aus dem Kleiderschrank zeigt, dass viele Ansprechgruppen davon profitieren, wenn Unternehmen über den «normalen Menschen» als Verbraucherin oder Verbraucher hinausdenken.

«Kat Holmes spricht in ihrem Buch «Mismatch» einen bedeutenden Aspekt an:
«There is no such thing as normal.» (Holmes, 2018, S. 91) Ein typisches Problem ist,
wenn die Zielgruppe zu stark vereinfacht wird. So wird vergessen, die menschliche
Diversität zurück in den Designprozess zu bringen. Dabei versteckt sich ein
gefährlicher Begriff: Der normale Mensch (vgl. Holmes, 2018, S. 91)»

Gender in der Normungsarbeit
Da die Thematik bei den Normungsmitgliedern mehr und mehr erkannt wird, reagieren auch die unterschiedlichen Normenorganisationen. ISO und CEN haben im Antragsformular für neue Normen eine Checkbox «Accessability und Design for all» aufgenommen, wo Antragsstellerinnen und Antragssteller deklarieren müssen, ob die Norm Barrieren für gewisse Bevölkerungsgruppen beinhalten. Die United Nations Sustainable Development Goal UNSDG untersucht aktuell die Genderthematik im Zusammenhang mit ihren nachhaltigen Entwicklungszielen und befragt Mitglieder im Rahmen ihres «Gender Action Plan» zur Thematik.

«Urs Fischer, CEO der SNV, hat als einer von 39 Geschäftsführern von
Normenorganisationen die
«ISO Gender Responsive Standards Initiative»
der United Nations Economic Commission for Europe (UNECE) unterzeichnet,
welche vorsieht, alle Geschlechter in die Entstehung von Standards einzubeziehen
und vor allem Frauen und Mädchen die gleichen Voraussetzungen wie
Männern zu gewähren. (Lea Leibundgut, Programme Manager SNV, 2021)»

Die Entwicklung ist noch am Anfang und die tägliche Arbeit in den Normenkomitees wird zeigen, wie die Sensibilisierung auf theoretischer Ebene in der Praxis aufgenommen wird.

Nicht die Normen, sondern die Gesellschaft bestimmt
Gender ist ein soziales Konstrukt, Normen basieren auf dem biologischen Geschlecht. Es ist nachvollziehbar, dass sich Unternehmen in einer Konfliktzone bewegen, die die einen gekonnt auflösen und andere bewusst zementieren. Der wirtschaftliche Grund dahinter ist, zu produzieren, was verkauft wird. Eine gewichtige Stimme hat somit die Käuferschaft – sie diktiert mit ihrem Verhalten das Angebot.

Ein Beispiel aus dem Kinderzimmer, wo stereotypes Denken vorherrscht, ist die geschlechtsneutrale Linie von Lego. Das schwedische Unternehmen hat im Vorfeld eine eigene Studie beauftragt und herausgefunden, dass Mädchen durch die Benutzung von «Jungenspielzeug» selbstbewusster werden und Jungen eher unter den Stereotypen leiden. «71 Prozent der befragten Jungen befürchteten, dass man sich über sie lustig machen würde, wenn sie mit «Mädchenspielzeug» spielten. Eine Befürchtung, die laut der Studie auch von ihren Eltern geteilt wurde. «Eltern machen sich mehr Sorgen, dass ihre Söhne gehänselt werden als ihre Töchter, wenn sie mit Spielzeug spielen, das mit dem anderen Geschlecht assoziiert wird», sagte Madeline Di Nonno, Geschäftsführerin des Geena Davis Institute on Gender in Media, das die Studie durchgeführt hat. Befragt wurden fast 7’000 Eltern und Kinder im Alter von sechs bis 14 Jahren aus China, der Tschechischen Republik, Japan, Polen, Russland, dem Vereinigten Königreich und den USA. (Quelle: Spiegel Wirtschaft, 11.10.2021)

Diskriminiert, weil das Thema nicht auf dem Radar ist
Natascha Hess ist überzeugt, dass «Design for all» die Welt für alle bunter und besser macht. Der erste Schritt ist, dass Firmen sich mit dem Thema auseinandersetzen und eine aufschlussreiche Datenbasis schaffen. «Leute werden heute ohne Absicht ausgeschlossen. Man kann nur aus seiner eigenen Perspektive handeln. Als Frau kann ich nicht wissen, wie es sich als Mann anfühlt. Es geht darum, sich bewusst zu sein, dass man Sachen nicht weiss. Fehlendes Wissen beizuziehen und gemischte Teams zusammenzustellen sind Schlüsselfaktoren, um divers zu sein», fasst Natascha Hess zusammen. Den gleichen Wunsch hat sie auch an die Normungsarbeit: «Das Thema von einer neutralen Seite anzuschauen. Normen und Design sollen auf Fakten basieren, ohne politische oder soziale Färbung.»

Wissen weitergeben – darum geht es
Natascha Hess weiss noch nicht, in welche Richtung sie ihr Berufsweg führen wird. Sie kann sich jedoch sehr gut vorstellen, mit ausreichend gesammeltem Berufswissen und Lebenserfahrung in der Normungsarbeit mitzuwirken. «Wenn man etwas weiss, soll man das mit Menschen teilen, um gegenseitig voneinander zu profitieren.»

Ein Experiment: weiblicher Bohrer und männlicher Mixer
Dürfen wir vorstellen «Mega Hurricane», der kraftvolle Mixer und «Dolphia», die dekorative Bohrmaschine. Das International Journal of Design hat sich an ein Designexperiment gewagt, das auf eindrückliche Weise das vergeschlechtlichte Produktdesign aufzeigt. (Quelle: International Journal of Design, Case Studies, 2012)

«Der Handmixer wurde zum Mega Hurricane Mixer mit grossem ergonomischem Griff,
starken Farbkontrasten, verschiedenen Oberflächenmaterialen und matten dunklen Farben,
die einen komplexen und gefährlichen Eindruck auf die Anwenderin oder den Anwender machen.
Die Bohrmaschine wurde zu Dolphia, inspiriert durch einen sanften Delfin in hellen pastellfarben,
mit glänzender Oberfläche, dekorativen Griffflächen und Lüftungsschlitzen. Dies vermittelt
eine organische und simple Produktsprache, die auf die Nutzerin oder den Nutzereinfach
verständlich und kurzlebig wirkt. (Ehrnberger, Räsänen, &Ilstedt, 2012, S. 93)»

Heutiges Design

«Dolphia»

«Mega Hurricane»

Weitere Informationen:

Bachelor Thesis: «Normen und Gender im Design»
Natascha Hess, 2021 – Fachhochschule Nordwestschweiz, Schule für Gestaltung und Kunst Basel

LinkedIn Profil von Natascha Hess

Buchtipps
«Das Patriarchat der Dinge» – Rebekka Endler
«Unsichtbare Frauen – Wie eine von Männern gemachte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert» – Caroline Criado-Perez
«Gender Design. Streifzüge zwischen Theorie und Empirie» – Uta Brandes

Ausstellung Stapferhaus
Trailer «Geschlecht jetzt entdecken» – Ausstellung bis 22.5.2022

SNV-Artikel: Der genormte Mensch ist männlich

 

Quellen:

Lego macht keinen Unterschied mehr zwischen Jungen und Mädchen
Spiegel Wirtschaft, 11.10.2021

Visualising Gender Norms in Design
International Journal of Design, Case Studies, 2012

ISO Projektkomitee zur Erstellung von Leitlinien für die Förderung und Umsetzung von Gleichstellung

Das Erreichen der Geschlechterparität steht schon seit einiger Zeit ganz oben auf der Agenda der internationalen Normenorganisation ISO. Im Jahr 2019 hat sie gemeinsam mit vielen ihrer Mitglieder, wie auch der Schweizerischen Normen-Vereinigung (SNV), ihr Engagement für weitere Massnahmen zur Gleichstellung der Geschlechter durch die Unterzeichnung der UNECE-Erklärung zu geschlechtergerechten Normen bekräftigt. Im selben Jahr hat die ISO ihren Gender-Aktionsplan genehmigt. In der ersten Phase (2019-2021) ging es um eine Bestandsaufnahme, in der zweiten Phase (2021-2023) werden die Herausforderungen angegangen.

Es ist jedoch nicht nur das Ziel, Geschlechtergerechtigkeit in die Normung zu bringen; Normen sollen auch Anleitungen geben, wie die Frage der Gleichstellung in Organisationen angegangen werden kann. So will ein neues ISO-Projektkomitee eine Leitlinien-Norm herausgeben, welche die Anwenderinnen und Anwender dabei unterstützt, die Gleichstellung in ihre internen und externen Strategien und Abläufe zu integrieren. Interessierte Expertinnen und Experten können sich über eine SNV-Mitgliedschaft an den Arbeiten des ISO-Projektkomitees ISO/PC 337 Guidelines for the promotion and implementation of gender equality beteiligen.

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