SNV-Story #1: Schritt für Schritt zur Norm – mit einem offenen Ohr und Respekt

Verbraucherinnen und Verbrauchern geht es heute nicht mehr nur um das Endprodukt, sie sind kritischer geworden bezüglich der gesamten Wertschöpfungskette. Der nachhaltige Einkauf gewinnt an Bedeutung. Vegetarisch, vegan, ovo-lacto-vegetarisch, ovo-vegetarisch, lacto-vegetarisch … die Vielfalt, nach welchen Prinzipien die Welt sich ernährt, wird stetig grösser und komplexer. Etiketten lesen beim Lebensmitteleinkauf ist nicht mehr exotisch, sondern für viele ein Grundbedürfnis. Die Erwartungen an eine konsistente, transparente sowie vertrauensvolle Kommunikation steigen. Von vegetarischen oder veganen Labels erhofft man sich Orientierung. Die Zeit war reif für eine entsprechende ISO-Norm.

Dominique Taeymans, Lebensmittelexperte und Leiter der Arbeitsgruppe der ISO-Norm 23662:2021 «Definitions and technical criteria for foods and food ingredients suitable for vegetarians or vegans and for labelling and claims» hat uns einen Einblick in die Entstehung und Bedeutung der Norm gegeben. Er macht den Auftakt der diesjährigen Serie, in der wir Ihnen die komplexe Normenwelt verständlich näherbringen.

Warum wurde diese Norm lanciert?
Seit 2018 ist die Definition von «vegetarisch» und «vegan» in der Schweiz bereits im Gesetz verankert; in der Europäischen Union und anderen Ländern ist sie dagegen rechtlich noch eine Unbekannte. Global fehlt eine Referenz, auf die sich alle einigen können. Gleichzeitig tauchen wegen des veränderten Konsums immer mehr Ersatzprodukte in den Lebensmittel- und Getränkeregalen auf, die den steigenden Bedarf abdecken. Erste Labels wie das «V-Label» der Europäischen Vegetarier Union (EVU) sind lanciert. Gleichzeitig werden Hersteller und der Handel kreativ mit eigens definierten Deklarationen. Eine internationale Norm soll die technischen Kriterien für Lebensmittel sowie Lebensmittelzutaten, die für die entsprechende Zielgruppe geeignet sind, bereitstellen. Nestlé reichte im Juli 2018 bei der SNV einen entsprechenden Normenprojektantrag für eine ISO-Norm ein.

Erster Schritt: Bewilligung und Arbeitsgruppe
Zuerst prüft die SNV den Normenprojektantrag und reicht ihn bei Gutheissung weiter an das entsprechende ISO-Komitee, in diesem Fall das Technische Komitee ISO/TC 34. Die Mitglieder bestimmen final, ob der Antrag angenommen wird und setzen die Arbeitsgruppe zusammen. Als Leiter der Arbeitsgruppe schlägt die SNV den ausgewiesenen Lebensmittelexperten Dominique Taeymans vor. Seine Verantwortung als Convenor beschreibt er wie folgt: «Als Convenor schaffe ich ideale Bedingungen, damit die Arbeitsgruppe ihr Mandat konstruktiv und effektiv erledigen kann. Zudem gehört zu meiner Rolle, allen Parteien unvoreingenommen zuzuhören und mit den unterschiedlichsten Meinungen respektvoll umzugehen.»

Zweiter Schritt: Inhalt aufbereiten
Doch wie kommt der Inhalt zustande? Startet man auf der grünen Wiese? «Ein Bestandteil des Normenprojektantrags ist ein erster Entwurf für die Norm. Unsere Arbeit haben wir auf Basis des von Nestlé eingereichten Vorschlages aufgenommen», erklärt Dominique Taeymans. «Ich habe mich dazu entschlossen, nicht Satz für Satz zu behandeln, sondern die Diskussion rund um vier Hauptthemen zu gliedern: Tierversuche, Kreuzkontamination beziehungsweise unbeabsichtigtes Vorhandensein nicht-veganer/vegetarischer Zutaten, Verpackungsmaterialien sowie gentechnisch veränderte Organismen (GVO)», kommentiert der Convenor seine Vorgehensweise. Vor allem das Thema Tierversuche ist intensiv diskutiert worden. Heute ist die Sachlage so, dass für die Zulassung neuer Inhaltsstoffe oder Zusätze Tierversuche verbindlich vorgeschrieben sind. Das überschreitet bei Veganern die rote Linie und der Anspruch wurde erhoben, Tierversuche in der Norm zu verbieten. «Als Convenor respektiere ich alle Meinungen und versuche, innerhalb der Gruppe einen Konsens zu finden. Normen können Gesetze nicht übersteuern. Somit hilft uns in der Normungsarbeit ein absolutes Nein nicht weiter, sondern nur die Suche nach vertretbaren Alternativen», unterstreicht Dominique Taeymans.

Dritter Schritt: Vom Antrag zum finalen Entwurf
Bis die Arbeitsgruppe einen finalen Entwurf präsentiert, erfolgen zahlreiche Konsultationen rund um den CD (Comittee Draft), sowie zwei Abstimmungen: der DIS (Draft International Standards) und der FDIS (Final Draft International Standards). Die Mitglieder des Technischen Komitees haben immer wieder die Möglichkeit, Kommentare zum Draft einzureichen. Der Convenor ist letztendlich dafür verantwortlich, dass diese lückenlos bearbeitet werden. «Auf den DIS haben wir beispielsweise 69 Kommentare erhalten, die ganze 30 Seiten füllen», ergänzt Dominique Taeymans. Jeder Kommentar muss von der Arbeitsgruppe beurteilt, angenommen oder abgelehnt und entsprechend begründet werden. Die SNV begleitet die Arbeitsgruppe von der ersten Sitzung an. Ihre Aufgabe ist es dabei, den formalen Normenprozess zu berücksichtigen, alles ordnungsgemäss zu dokumentieren sowie den Kontakt zum übergeordneten Komitee sicherzustellen. Apropos Komitee: Das nationale Spiegelkomitee im Bereich Lebensmittel besteht aktuell aus 59 Expertinnen und Experten. Das zeigt, wie stark das Interesse an diesen Themen in der Schweiz ist. «Ein grösseres Komitee gibt es sonst nur im IT-Bereich», klärt Ruth Schneider, Standards Manager bei SNV auf. Sie hat die Entwicklung der Norm ISO 23662:2021 von Anfang an begleitet und dabei gelernt, dass Lebensmittel für viele eine Herzenssache sind. «Offensichtlich wurde das unter anderem bei der Diskussion um das umstrittene Palmöl. An und für sich ein pflanzliches Produkt. Doch durch die intensive Rodung und die daraus folgende Zerstörung des Lebensraums der bedrohten Orang-Utans verdient es aus Sicht einiger veganer Vertreter die Bezeichnung vegan nicht.»

Vierter Schritt: Finalisierung und Publizierung
Das Technische Komitee verabschiedet den FDIS und gibt dem Convenor gleichzeitig mögliche redaktionelle Anpassungen weiter. «Die Norm wird immer auf Englisch entwickelt und danach in die relevanten Sprachen übersetzt. Dabei spielt die Wortwahl eine grosse Rolle. Ob wir in einem Satz beispielsweise ein «shall» oder ein «should» verwenden, macht einen Unterschied. Solche Anmerkungen spielt das Technische Komitee zurück», führt der Convenor aus. Nachdem Inhalt und Form abgenommen sind, wird die Norm publiziert. Diese ist öffentlich zugänglich und kann von allen Interessierten im SNV-Shop gekauft werden. Die Norm wird nach einem vorgeschriebenen Rhythmus überprüft und bei Bedarf neu aufgelegt.

Wie verbessert die Norm den Alltag?
Die Norm schafft auf verschiedenen Ebenen Klarheit. So ist es für Lebensmittelhersteller einfacher, Lieferanten in die Pflicht zu nehmen, für Vegetarier oder Veganer geeignete Inhaltsstoffe zu liefern. Der internationale Handel wird dank einem gemeinsamen Verständnis erleichtert. Und letztendlich gibt die Umsetzung der Norm Verbraucherinnen und Verbrauchern Sicherheit bei der Lebensmittelwahl. «Ein Erfolg ist sicherlich auch, dass der Herausgeber des V-Labels Anpassungen basierend auf der ISO-Norm gemacht hat», berichtet Dominique Taeymans stolz. «Verpasst haben wir einzig die Chance, gleichzeitig auch Regelungen für den neusten Trend «plant based» zu bestimmen. Aber dieser Aspekt wird nun berücksichtigt und bereits in einer neu geschaffenen Arbeitsgruppe diskutiert. Das zeigt, dass sich nicht nur die Lebensmittelindustrie weiterentwickelt, sondern auch die entsprechenden Normen lebendig bleiben.»

Steckbrief ISO 23662:2021

Lanciert: Juli 2018
Publiziert: März 2021
Anzahl Seiten: 6
Initiator: Nestlé
Convenor: Dominique Taeymans
Wirkungskreis: International
Teilnehmende Länder: Schweiz, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Niederlande, Kanada, Australien, Neuseeland, Singapore, Iran und zeitweise Indien
Technisches Komitee: ISO/TC 34 Food products
Globaler Trend: ISO Trendreport > Society > Consumption
Status: 60.60 publiziert
Nächster Review: 2026
Preview von ISO 23662

Dominique Taeymans

Er ist ausgewiesener Lebensmittelexperte, Professor für Chemie- und Lebensmitteltechnik am Institut Meurice Chimie in Brüssel sowie Inhaber der Beratungsfirma FoodREG Consult. Seinen Erfahrungsschatz von über 30 Jahren hat er bereits bei der Entwicklung von diversen Normen eingebracht.

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