SNV-Story #2: Wie aus einer DIN-Norm eine Schweizer Norm wird

Was macht die Eignungsdiagnostik? Mit ihr beurteilt man, ob Mitarbeitende für die zu besetzende Position geeignet sind: eine grosse Verantwortung mit Zugang zu sensiblen Daten. Durch den Einsatz von einfachsten Interviews bis hin zu mehrtägigen Assessments werden Kandidatinnen oder Kandidaten auf Fähigkeit, Wertehaltung oder Persönlichkeit im beruflichen Umfeld geprüft. Doch wer beurteilt und prüft die Eignungsdiagnostik? Bis heute niemand. Die Berufsbezeichnung Eignungsdiagnostikerin oder Eignungsdiagnostiker ist hierzulande nicht geschützt und das Berufsfeld bis auf den eidgenössischen Datenschutz ein unreguliertes Gebiet. Für die Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP höchste Zeit, diesen Umstand zu ändern. Die Idee: Eine gemeinsame Normengrundlage und darauf basierend eine Zertifikation für die Berufsbezeichnung zu lancieren. Annick de Buman, fachliche Leiterin der Arbeitsgruppe «SN 33430 Anforderung an berufsbezogene Eignungsdiagnostik», hat uns auf den Weg dorthin mitgenommen.

Gefunden: Die Lösung liegt vor der eigenen Haustüre
Glücklicherweise bestand als Arbeitsgrundlage in Deutschland bereits eine vergleichbare Norm – nämlich die «Eignungsbeurteilung nach DIN 33430». «Als Nächstes haben wir uns an die Schweizer Vertreterin, die SNV, gewandt. Wir sind hier auf offene Türe gestossen und optimal begleitet worden», blickt Annick de Buman zurück. «Uns wurde bestätigt, dass eine nationale Anpassung der DIN-Norm machbar ist und dass Österreich bereits denselben Weg gegangen ist.»

Gesucht: 5 unabhängige Organisationen
Als Nächstes ging es darum, die Arbeitsgruppe zusammenzustellen. Dafür gibt es klare Vorschriften. Eine Anforderung der SNV war auf den ersten Blick einfach: fünf voneinander unabhängige Organisationen finden und mit der Arbeit starten. «Fünf ist machbar», dachte Annick de Buman anfänglich. Doch es stellte sich heraus, dass die Zusammenstellung nicht ganz leicht war. Für Expertinnen und Experten mit einem stark gefüllten Terminkalender ist die ehrenamtliche Mitarbeit häufig schwer umsetzbar und dadurch leider gleichzeitig eine verpasste Chance auf Mitbestimmung. Eine andere Hürde war, dass nur SNV-Mitglieder im Gremium mitbestimmen dürfen. «Die SNV hat uns bei der Suche nach geeigneten Teilnehmenden stark unterstützt und letztlich sind wir mit einer breit abgestützten Kompetenzbasis am Werk: zwei Hochschulen, drei Verbände und ein Privatunternehmen. Der überwiegende Teil der Teilnehmenden hat einen psychologischen Background. Im Dezember 2021 fand der Kick-off statt.»

Geführt: Ein Team, das harmoniert
Die Arbeitssitzungen laufen nach einem vorbestimmten Prozedere ab und die Aufgabenteilung zwischen der Projektleitung seitens SNV sowie derjenigen von FSP sind klar definiert. Die SNV ist grob gesagt für das Prozedurale zuständig, die Organisation sowie die Protokollierung. Die FSP für den Inhalt der Norm. Die Sitzungen dauern zwei Stunden und sind perfekt orchestriert. «Während der virtuellen Sitzungen gehen wir Satz für Satz und Abschnitt für Abschnitt durch die DIN-Norm. In der anschliessenden Diskussion erläutern wir, ob und in welcher Form Anpassungen für die schweizerischen Begebenheiten notwendig sind», führt Annick de Buman aus. «Dabei spielt vor allem die Wortwahl eine Rolle. Gleichzeitig konzentrieren wir uns darauf, die Norm nicht unnötig aufzublasen. Nicht Relevantes streichen wir grosszügig.» Die SNV ist meistens mit zwei bis drei Fachpersonen mit dabei.

Gewünscht: konsensbasierte Entscheidungen
Alle Anpassungen sind konsensbasiert zu fällen. Einfach gesagt: Alle müssen zustimmen. Dementsprechend ziehen sich einzelne Diskussionen gerne in die Länge. Für einige erstaunlicherweise, für einige nicht überraschend, laufen diese auch zwischen Psychologen ausserordentlich konstruktiv und lösungsorientiert ab. Ein entscheidender Erfolgsfaktor ist dabei, dass man den Diskurs nicht bei null starten musste. Nebst der einstimmigen Annahme berücksichtigt die Arbeitsgruppe ebenfalls die Vielfalt der Sprachregionen. So repräsentieren einzelne Mitarbeitende gleichzeitig Verbände in der Westschweiz. Die abgesegnete Norm wird später auf Französisch übersetzt.

Gestaltet: die Basis und die Zukunft
«Nach sieben Sitzungen sind wir aktuell ungefähr in der Mitte der deutschen Normenvorlage. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, uns im monatlichen Rhythmus zu treffen. Manchmal begrüssen wir an unseren Sitzungen auch Gäste, die von der SNV oder den Mitgliedern der Arbeitsgruppe eingeladen sind. Diese dürfen eifrig mitdiskutieren, besitzen aber kein Stimmrecht.», führt Annick de Buman aus. Inspiriert von der österreichischen Variante war es für die Schweizer Gruppe wichtig, auch verstärkt Themen der Stunde in die Norm einzubringen. So wurde der Begriff der Fairness abgesteckt. Fairness bedeutet, dass in der Eignungsdiagnostik niemand aufgrund von Herkunft, Rasse, Geschlecht, Alter, Sprache, sozialer Stellung, Lebensform, Religion sowie weltanschaulicher oder politischer Überzeugung, wegen körperlicher, geistiger oder psychischer Beeinträchtigung diskriminiert wird. Nebst dem Thema Fairness wurde bereits vorgesehen, Aspekte rund um die Digitalisierung oder Verwendung künstlicher Intelligenz einfliessen zu lassen. Die Norm soll am Ende so umfassend sein, damit sie auf dem Weg zu einem Qualitätslabel den bestmöglichen Startschuss bietet.

Geprüft: Das Qualitätslabel als Fernziel
Dank des zukünftigen Schweizer Labels werden qualitätsbewusste Schweizer Expertinnen und Experten nicht mehr auf eine Zertifizierung im benachbarten Ausland angewiesen sein. Aktuell plant man ein zweiteiliges Prüfungsverfahren mit einem theoretischen und einem praktischen Teil. Erste Hochschulen aus der Deutsch- und Westschweiz haben bei der FSP bereits ihr Interesse angemeldet, bei der Entwicklung wissenschaftlich fundierter Tests mitzuwirken sowie als spätere Prüfungsstelle zu agieren.

Gelernt: Normen sind faszinierend und ständiger Begleiter
«Ich finde es beeindruckend, wie jede und jeder in der Normungsarbeit eine Stimme bekommt und somit Normen beeinflussen kann. Diese Tatsache war mir vor der Mitarbeit nicht im Geringsten bewusst», schwärmt Annick de Buman. «Normen gibt es überall in unserem Alltag und sie bestimmen häufig aus dem Hintergrund unser Leben mit. Die Möglichkeit, mit Systematik den konstruktiven Austausch zwischen all den Expertinnen und Experten zu leiten und dabei etwas Greifbares für heute und die Zukunft zu gestalten, begeistert mich. Wir möchten nichts Abstraktes konstruieren, sondern eine pragmatische Verbesserung des Berufsbildes erreichen. Alle sollen unsere Norm gerne freiwillig anwenden wollen.»

Nachgefragt bei Sébastian Simonet: Matchmaking via Bits & Bytes?

Wie beeinflusst künstliche Intelligenz (KI) die Berufseignungsdiagnostik?
«KI beeinflusst viele Teile der Gesellschaft oder Wirtschaft. ChatGPT ist aktuell in aller Munde und zeigt erstaunliche Fortschritte auf. In anderen Bereichen liegt KI hinter den Erwartungen sowie Versprechen zurück. Basis einer KI sind immer grosse Mengen an aussagekräftigen Daten. Werden menschliche Bias ins System einprogrammiert, verhält sich die künstliche Intelligenz identisch. Ein Beispiel: In den USA sollten Richterinnen und Richtern die Rückfallgefahr von Verurteilten vorgerechnet werden und somit eine Hilfe in der Urteilsfindung darstellen. Es stellte sich heraus, dass das System genauso rassistisch urteilte, wie es das amerikanische Justizsystem auch tut. Bei der Beurteilung von menschlichen Fähigkeiten und Kompetenzen unterstützen heute Technologien die systematische sowie unverfälschte Erfassung von Emotionen während eines Gesprächs. Ich denke da an Systeme wie beispielsweise Affectiva, das auch im Bereich der Werbeforschung seine Wirkung bewiesen hat. Der Cambridge Analytica Skandal hat gezeigt, wie auch Social Media Daten Vorhersagen über Persönlichkeitseigenschaften, politische Meinungen und Wertevorstellungen herausfiltern können.»

Wie soll diese Entwicklung in der Norm SN 33430 integriert werden?
«KI beinhaltet aussichtsreiche Möglichkeiten und birgt Gefahren zugleich. Dies gilt es in der Norm selbst zu berücksichtigen. Aus meiner Sicht sollten wir zum heutigen Zeitpunkt darauf bestehen, dass alle Eignungsbeurteilungen ausschliesslich von Menschen verantwortet werden müssen. Angewendete Algorithmen, beziehungsweise die zugrunde liegenden Daten, sollten von diesen Fachleuten zumindest im Grundsatz verstanden werden.»

Sébastian Simonet ist Eignungsdiagnostiker, Geschäftsführer bei Nantys AG, Mitglied FSP und gehört zu den Mit-Initiatoren der SN-Norm 33430.

Lesen Sie hier, welche Regulierungen die Europäische Kommission bezüglich Künstlicher Intelligenz plant.

Steckbrief SN 33430

Lanciert: Dezember 2020
Publiziert: geplant 2024
Anzahl Seiten: Entwurf aktuell bei 30 Seiten
Initiator: Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen
Fachliche Leiterin Arbeitsgruppe: Annick de Buman
Wirkungskreis: Schweiz
Teilnehmende Länder: Schweiz. Basierend auf einer Vorlage aus Deutschland und der Adaption davon in Österreich.
Teilnehmende Parteien:
ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW
Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP
sgaop Schweizerische Gesellschaft für Arbeits- und Organisationspsychologie
SGLP Schweizerische Gesellschaft für Laufbahn- und Personalpsychologie
SDBB Schweizerisches Dienstleistungszentrum Berufsbildung
Aequivalent SA
Status: in Erarbeitung
Nächster Review: 5 Jahre nach Publikation

Annick de Buman

Sie hat an der Universität Bern einen Master of Science in Psychology abgeschlossen. Seit 2018 ist sie bei der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP als Projektleiterin Berufspolitik tätig. In dieser Funktion leitet sie unter anderem das Projekt zur Einführung eines Qualitätslabels im Bereich der berufsbezogenen Eignungsdiagnostik.

Annick de Buman ist seit 2018 bei der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP als Projektleiterin Berufspolitik tätig.

Annick de Buman ist seit 2018 bei der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP als Projektleiterin Berufspolitik tätig.

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