Sascha Gill ist verantwortlich für Umwelt und Nachhaltigkeit bei CLIA (Cruise Lines International Association) Europe und Convenor der Arbeitsgruppe ISO/TC 8/SC 7/WG 1.
SNV-Story #4: Managementsystem in Sicht!
ISO 28701 – Managementsystem für Sicherheit und Nachhaltigkeit in der Binnenschifffahrt
Die Binnenschifffahrt wird weltweit immer populärer. Sei es, weil sich Staaten ehrgeizige Ziele für die Verlagerung des Transports auf das Wasser gesetzt haben. Sei es, weil diese Reiseform immer beliebter wird. Dem entgegen stehen Herausforderungen wie tiefere Wasserstände, ein verändertes Nachhaltigkeitsbewusstsein, ein Mangel an lizenzierten Schiffsführenden oder ein fehlendes übergeordnetes Managementsystem. Höchste Zeit für einen Kurswechsel, um auf allen Binnengewässern einem einheitlichen Standard zu folgen und die Dekarbonisierung voranzutreiben. Der neue Normentwurf Sicherheits- und Nachhaltigkeits-Managementsystem ISO/CD 28701 basiert auf den ESG-Prinzipien und vereinheitlicht bereits vorhandene regionale Regelwerke in einem internationalen, zertifizierbaren System. Wir haben mit Sascha Gill gesprochen, der zu den Initiatoren gehört und Convenor der Arbeitsgruppe ISO/TC 8/SC 7/WG 1 ist.

Zu viel im Fluss, zu viele Regeln, zu wenig international
Ein Kapitän auf dem Ozean steht einer grossen Herausforderung gegenüber: dem Meer selbst. Ein Kapitän auf einem Fluss hat mit vielfältigeren Elementen zu kämpfen: Verkehr, Brücken, Wassertiefstand, Untiefen, enge Verkehrswege und so weiter. Jedes Schiff auf dem Meer unterliegt dem internationalen Standard SOLAS (Safety of Life at Sea) der International Maritime Organization (IMO). Und welchem Standard folgt ein Kapitän eines Flussschiffes? «Bis heute leider keinem, der international anwendbar ist. Je nach Fluss kommt ein Landesgesetz, eine regionale Verordnung oder Vorgaben einer Flusskommission zum Einsatz. Die ZKR (Zentralkommission für die Rheinschifffahrt)
hat beispielsweise sehr klare Regeln. Doch wie es der Name schon sagt, sind diese nur für den Rhein gültig. Dieser Zustand ist speziell für Firmen sehr herausfordernd, die international operieren und Mitarbeitende aus den unterschiedlichsten Ländern beschäftigen. Allgemeine Managementsysteme wie ISO 9001 für Qualität oder ISO 45001 für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz sind zu wenig spezifisch für die Binnenschifffahrt und werden somit auch selten am Fluss zertifiziert», klärt Sascha Gill auf. Die Auswirkungen kann man sich einfach ausmalen: Mitarbeitende, die auf verschiedenen Gewässern unterwegs sind, müssen sich im Arbeitsalltag permanent umstellen. Firmen mit einer globalen Flotte müssen ihre Schiffe, ihre Crew sowie ihre Prozesse auf die unterschiedlichsten Regeln einstellen. Dieser Zustand wird sich mit dem erwarteten Verkehrsanstieg in Europa weiter verschärfen, denn das «EU-Klimaschutzpaket: Fit For 55»
legt einen klaren Fokus auf die Wasserstrasse als Verkehrsnetz für Güter.
Verkehr auf EU-Wasserstrassen
2023: 16 000 Schiffe
2050: 25 000 Schiffe
Kurswechsel: international zertifizierte Sicherheit und Nachhaltigkeit
Auf dem Schiff gibt es eine Person, die die umfassende Verantwortung trägt: der Kapitän oder die Kapitänin. Jeder oder jede hat eigene Erfahrungen und leitet daraus die Regeln ab, wie Sicherheit funktioniert. In der kommerziellen Flussschifffahrt gibt es zudem viele kleine Einzelfirmen, die teilweise mit nur einem Schiff unterwegs sind. «Nehmen wir das Beispiel Evakuation. Je nach Kapitän, je nach Firmenvorschriften, je nach Region oder je nach Crew-Erfahrung werden Evakuationen unterschiedlich durchgeführt. Wechselt ein Crewmitglied oder eine Kapitänin das Schiff, die Firma oder den Arbeitsort, kann plötzlich alles anders sein. Das wirkt sich oft nicht sofort auf die Sicherheit aus, aber es verwirrt und birgt einen grossen Aufwand für die Mitarbeitenden, aber auch Sicherheitskräfte, die von Land aus operieren», präzisiert Sascha Gill. «In der Ozeanschifffahrt optimiert man nach jedem Unglück das Regelwerk, um die Menschen und die Umwelt besser zu schützen. Sicher auch der Tatsache geschuldet, dass solche Ereignisse oft sehr medienwirksam sind und es die globale Organisation IMO gibt, die sich diesen Dingen annimmt. In der Flussschifffahrt optimieren die Verantwortlichen ebenfalls nach Fehlern, aber meist nur in einem lokalen Umfang und nicht mit globaler Wirkungskraft. Die Motivation der Initiatoren des neuen Managementsystems war, diese grosse Lücke schnellstmöglich zu schliessen und ein zertifizierbares System zu entwickeln.» Nebst den Nachhaltigkeitsaspekten sowie der Sicherheit spielen auch die immer strenger werdenden Anforderungen an die Rechnungslegung eine tragende Rolle. Jede Firma wird zukünftig nebst Finanzkennzahlen auch transparent über ihr ökonomisches, ökologisches und soziales Engagement berichten müssen. Dazu fehlt den Führungsteams in der Branche in den meisten Fällen das Wissen, klare Richtlinien und Handlungsempfehlungen. Ein branchenspezifischer Standard schliesst diese Lücke ebenfalls. Anwenderinnen und Anwendern gibt er praktische Lösungsansätze, wie die relevanten Informationen zu sammeln und gemäss den lokalen Regeln aufzubereiten sind.
Sprachprobleme führen zu Missverständnissen
Auf den europäischen Flüssen gibt es keine einheitliche Sprache. Eine grosse Herausforderung für internationale Mitarbeitende. Ein internationaler Standard schafft Klarheit im Alltag. Eine Crew, die von einem Schiff zum anderen oder von einem Gewässer zum anderen wechselt, muss problemlos die wichtigsten Regeln finden, verstehen und wissen, wie man sie anwendet.
ISO gibt freie Fahrt für einen MSS
Die Initiatoren haben beim verantwortlichen Technischen Komitee (ISO/TC 8/SC 7) einen Antrag auf die Entwicklung eines neuen Management System Standard (MSS) gestellt. «Aufgrund des dargelegten Handlungsbedarfs war es nicht schwierig, die Zustimmung für einen neuen MSS zu erhalten. Entscheidend waren die Dringlichkeit, der bereits sorgfältig ausgearbeitete Entwurf und der Fakt, dass der neue MSS kein Konkurrenzprodukt zu bisherigen Lösungen wie beispielsweise MSS für Qualität (ISO 9001), Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz (ISO 45001), Umwelt (ISO 14001), Energie (ISO 50001) oder Risikomanagement (ISO 31000) darstellt.» Wichtig war auch, den MSS klar in seinem Verwendungszweck abzugrenzen. Der Wirkungskreis der zu erarbeitenden Norm «ISO/CD 28701 Sicherheit und Nachhaltigkeit in der Binnenschifffahrt»
ist festgelegt auf:
- gewerbliche Schifffahrt
- auf Binnenwasserstrassen (Flüsse, Seen etc.),
- für Fracht-, Kreuzfahrt, Fähr- und Fahrgastschiffe,
- mit einer Länge von mehr als 24 Metern,
- sowie für den Landbetrieb, der das Schiff unterstützt.
Die neue Managementsystemnorm wird so ausgelegt sein, dass sie von kleinen sowie von grossen Firmen pragmatisch eingeführt und umgesetzt werden kann. Ein Schlüsselinstrument wird dabei das Risk Assessment sein, das klar beschrieben ist und der Startpunkt für die zu treffenden Massnahmen sein wird. Dabei bezieht das System auch die lokale Rechtsprechung mit ein. Dies ist in Europa speziell wichtig, da die Gesetze auf dem Rhein sehr präzise und umfangreich sind. Der Normentwurf ISO/CD 28701 konkurriert nicht mit den lokalen Regeln, sondern garantiert, dass alle Regeln umfangreich berücksichtigt werden. Der neue MSS wird somit zu einem klaren Führungsinstrument.
Der erste Entwurf gibt den Kurs klar vor
Dank eines ausgereiften und durchdachten ersten Entwurfes, der ungefähr 30 Seiten umfasste, ist der gesamte Prozess der Entwicklung erstaunlich schnell gelaufen. «Bei der Ausarbeitung sind wir nach den 10 logischen Themenblöcken, sprich ISO-Abschnitten eines MSS vorgegangen. Alles ist von Grund auf neu entstanden, nichts wurde aus bestehenden MSS abgeschrieben. Das Tempo, mit dem die Schweizerische Normen-Vereinigung (SNV) mitgeholfen und Entscheidungen vorangetrieben hat, beeindruckte mich stark. Aus Österreich kommend, habe ich ein gemächlicheres Tempo für die Normungsarbeit erwartet. Dank des konsequenten Vorgehens werden wir so schneller unseren Beitrag zur Sicherheit und Dekarbonisierung leisten können.» Seit dem Arbeitsstart im Juni 2022 hat die Arbeitsgruppe in wenigen Sitzungen das komplette Managementsystem ausgearbeitet. 2024 soll es in Kraft treten und Interessierte können sich ab dann zertifizieren lassen. Das Interesse ist gross, denn mit einer Zertifikation steigt auch die Attraktivität eines Anbieters. Die Zielgruppe der neuen Norm ist breitgefächert – von Reedereien über Schiffsführende, von Sicherheitsfirmen an Land bis hin zu Inhabern eines einzelnen Fuhrmittels.
Schwerpunkte von ISO/CD 28701
Zertifizierbar, international anwendbar, erhöht Sicherheit an Board, trägt zur Dekarbonisierung bei, basiert auf ESG-Prinzipien, unterstützt non-financial reporting
Was war Ihre grösste Überraschung bei der Normungsarbeit?
«Dass das in der Öffentlichkeit verbreitete Image von Normen nicht mehr zeitgemäss ist. Normen helfen, sie bringen Strukturen und ein klares Resultat. Normen kannte ich bis jetzt nur als Anwender. Jetzt, wo ich im Konstrukt mitgearbeitet habe, stelle ich fest, dass sich die Normenwelt stark modernisiert hat und auch übergeordnete soziale und ökologische Themen angeht. Das ist leider beim Publikum noch nicht angekommen. Meine Botschaft an alle ist, sich urteilsfrei auf die ISO und deren Regulierungen einzulassen. Wenn man sie richtig anwendet und versteht, bringen sie allen einen klaren Mehrwert.»
Steckbrief Norm ISO/CD 28701
Lanciert: 2020
Publiziert: geplant 2024
Anzahl Seiten: Entwurf aktuell bei 30 Seiten
Initiator: IG River Cruise
Convenor: Sascha Gill
Wirkungskreis: International
Status: 30.6 under development
Mehr Informationen zu ISO/CD 28701
Die 10 Abschnitte eines MSS nach ISO
Anwendungsbereich
Normative Verweise
Begriffe und Definitionen
Kontext der Organisation
Führung
Planung
Unterstützung
Betrieb
Bewertung der Leistung
Verbesserung
Können Sie uns in einer Übersicht kurz die wichtigsten Unterschiede zwischen einer «normalen» ISO-Norm und einer Managementsystemnorm MSS erklären?
ISO-Norm |
Managementsystemnorm MSS |
|
Zweck |
Regelt materielle und immaterielle Gegenstände wie Produkte, Verfahren, Messmethoden, Prozesse und Dienstleistungen. |
Ist ein Führungs- und Steuerungsinstrument, das Organisationen dabei hilft, ihre Leistungen zu verbessern. |
Beispiele |
ISO 668 «Frachtcontainer - Klassifizierung, Abmessungen, Gesamtgewicht» |
ISO 9001 für Qualitätsmanagement |
Zielgruppe |
Für Organisationen, die mit dem normierten Thema in Berührung kommen. |
Für alle Wirtschaftszweige, für verschiedene Arten und Grössen von Organisationen. |
Anzahl |
ca. 25 000 ISO-Normen |
ca. 100 ISO-MSS |
Audits |
Keine vorgeschrieben |
Ja, vorgeschrieben (intern/extern) |
Zertifizierung |
Möglich, selten |
Ja, meistens oberstes Ziel |
Gibt es höhere Ansprüche für die Lancierung eines MSS?
Ja, für einen MSS gibt es eine zusätzliche Hürde. Ein neues MSS-Projekt muss einen Genehmigungsprozess bei ISO durchlaufen. Zusätzlich zum regulären Antrag muss eine ausführliche «Justification Study» erstellt und in dieser argumentiert werden, wieso der Bedarf für einen neuen MSS vorhanden ist. Gleichzeitig sollte bereits der erste Normentwurf mitgesendet werden.
Seit wann gibt es die ISO-Managementsysteme?
Die erste ISO-Norm für ein Managementsystem ist schon bald 40 Jahre alt. Sie wurde 1987 lanciert und ist weltweit immer noch die bekannteste. Es handelt sich um die ISO 9001 für Qualitätsmanagement.
Wie kann ich mich zertifizieren lassen?
Die Zertifizierung nach einem ISO-MSS und die Ausstellung der Zertifikate erfolgt über externe, unabhängige Zertifizierungsstellen und nicht über die ISO-Organisation.
Sascha Gill
Er ist verantwortlich für Umwelt und Nachhaltigkeit bei CLIA (Cruise Lines International Association) Europe. In seiner vorgängigen Rolle bei Viking Cruises und Repräsentant der IG River Cruise gehört er zu den Initiatoren des neuen Managementsystementwurfs ISO/CD 28701 und ist Convenor der zuständigen ISO-Arbeitsgruppe. Sascha Gill hat einen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften von der Nottingham Trent University und einen MBA von der Oxford Brooks University.
