SNV-Story #6: Im richtigen Moment die richtigen Ideen entwickeln

Bereits mehrfach hatten wir in unseren Storys Einblick in unterschiedliche ISO-Arbeitsgruppen und kennen deren Aufgaben. Doch was sind sogenannte «ad-hoc-working groups»? Sie haben in einem spezifischen Markt Augen und Ohren immer offen, um veränderte Bedürfnisse oder neue Entwicklungen aufzunehmen. Sie schlagen ihrem Technischen Komitee (TC) Themen zur Abstimmung und somit zur Ausarbeitung neuer Standards vor. Eines der jüngeren Komitees ist das «TC322 Sustainable Finance», das 2018 seine Arbeit aufgenommen hat. Franz Knecht leitet die dazugehörige ISO TC322 AHG 2 «Future Standard Developments» und hat uns darüber aufgeklärt, wie sie neue Themen evaluieren.

Was ist die Geschichte hinter dem Technische Komitee ISO/TC322?
Der Anspruch von ISO ist, in allen TCs mit den weltweit besten Expertinnen und Experten zu arbeiten. Im Bereich Nachhaltigkeit und Finanzen hat sie über die Jahre hinweg grosse Kompetenzen aufgebaut. Seit 1993 gibt es das «TC207 Environmental Management» mit dem bekanntesten Management Standard ISO14001 – wonach sich jährlich zahlreiche Firmen zertifizieren lassen. Noch länger besteht das Komitee «TC68 Financial Services», nämlich seit mehr als 50 Jahren. Als ab dem Jahr 2013 innovative «grüne» Anlagemöglichkeiten immer populärer wurden, tat sich eine Kompetenzlücke in der Schnittmenge der zwei Themen auf. «Sustainable Finance» verlangt nach Kompetenzen, die die zwei Welten nicht losgelöst voneinander betrachten. Ein starker Supporter der neuen Disziplin war der damalige amerikanische Convenor vom TC207. Erste Initiativen im Bereich «Sustainable Finance» wurden deshalb in diesem TC 207 ergriffen, um schnell an Fahrt zu gewinnen. Parallel startete man die sorgfältige Einführung eines spezialisierten Komitees, wofür sich v. a. die Engländer und Festlandchina eingesetzt haben.

Nachhaltig ist mehr als nur grün
Der umfassende Begriff «Sustainable Finance» beinhaltet Aspekte aus Umwelt (Environmental), Sozialem (Social) und Governance (Governance). Diese ESG-Bereiche werden verwendet, um die langfristige Leistung eines Unternehmens zu bewerten und um Risiken in diesen drei Bereichen zu identifizieren. Dabei wird immer die ganze Wertschöpfungskette unter die Lupe genommen.

Wie sieht die ad-hoc-Arbeitsgruppe AHG2 aus?
Aktuell sind ungefähr 30 Mitgliedsländer durch ihre nationalen Memberkomitees vertreten. Für die Schweiz ist das die SNV, die Expertinnen und Experten für die Normungsarbeit entsendet. Die Abdeckung der Mitglieder ist geografisch breit abgestützt, allein aus Afrika sind aktuell noch wenige Länder vertreten. Die Mitarbeit in der AHG2 ist gleichermassen herausfordernd wie spannend. Es herrscht ein breiter Konsens darüber, dass weltweit anwendbare Standards zentral sind. So einfach das klingt, so intensiv sind die Diskussionen dazu. Motivierend ist, dass die beteiligten Fachpersonen persönlich äusserst engagiert sind. Denn Normungsarbeit ist ehrenamtliche Arbeit. «Geht es ums Thema Fintech, sind viele jüngere Spezialistinnen und Spezialisten mit progressivem IT-Wissen wie etwa zu Blockchain-Themen involviert. Der Austausch zwischen den Disziplinen und Generationen bereichert sehr», bestätigt Franz Knecht.

Wie findet man neue Themen für sein TC?
«Dafür gibt es ein einfaches Rezept: Nie aufhören, neugierig zu sein und überall dabei sein, wo neue Dinge mit hohem Potenzial entstehen», führt Franz Knecht aus. Das heisst etwa bei den Schlüsselorganisationen innerhalb und ausserhalb von ISO, als Teilnehmer oder Präsentatorin bei Konferenzen auftreten, Gesetzgebungen beachten und ständig das über die Jahre aufgebaute Netzwerk pflegen sowie involvieren. Überall und zu jederzeit kann in einem Land, in einem Markt ein Thema aufpoppen, das für die Finanzwelt früher oder später global relevant wird.  

Wann ist ein Thema von weltweitem Interesse?
«Das Finanzwesen ist global vernetzt, aber stark national reguliert», unterstreicht Franz Knecht. Nehmen wir beispielsweise ein afrikanisches Land, wo man mit einem lokalen Finanzbedarf häufig zum Familienoberhaupt geht, denn Clan-Funding hat in Regionen ohne effiziente, offene Finanzmärkte noch Tradition. «Dafür können wir keine Standards gestalten. Standards haben einen ‘Soft-Law-Charakter’ und müssen der Anforderung gerecht werden, weltweit zu funktionieren. Auch wenn wir beispielsweise die Gesetzesgestaltung in der EU beobachten und als Basis für gewisse Anforderungen in der Normierungsarbeit wählen, arbeiten wir nicht ausschliesslich für Anwender in der EU. Wir sind den globalen Märkten verpflichtet.» Ein Thema wird dann zu einem weltweiten Normungsthema, wenn es eine internationale Relevanz und Dringlichkeit hat, insbesondere aber von Nutzen für die Anwendenden ist. ISO steht deshalb auf der ganzen Welt für Glaubwürdigkeit, weil ihre Normungen erstens global ausgerichtet sind und zweitens in sorgfältigen, für alle Stakeholder zugänglichen sowie aufwändigen Prozessen durch Fachleute entstehen.

Wie bewertet man neue Themen?
ISO funktioniert wie jede andere Firma oder Organisation auch – sie richtet sich an den Bedürfnissen ihrer Zielgruppe aus. Standards haben im Markt nur dann eine Chance, wenn sie die Bedürfnisse der Anwenderinnen und Anwender und ihrer Stakeholder erfüllen und zu einer Verbesserung des aktuellen Zustandes beitragen. Nur dann werden Normen akzeptiert und angewendet, respektive im Falle von ISO gekauft. «Die Branchenführer sind dabei selten unsere erste Anspruchsgruppe, da diese über ausreichend Ressourcen verfügen, um eigene Wege, Standards oder Verfahren zu entwickeln. ISO arbeitet schwergewichtig für die anderen Marktteilnehmenden. Wir suchen die Themen mit dem grössten Potenzial. Wir starten in der Breite, bevor wir tief in ein Thema eintauchen», erläutert Franz Knecht. Dabei ist der gewählte Weg nicht immer der direkteste. Erfassen Firmen oder die Gesellschaft den Bedarf für ein Gesamtthema nicht von Anfang an, geht man schrittweise vor und definiert Normen für einzelne Teilbereiche, die sich später zu einem grossen Bild zusammenfügen. Die Aufgabe ist es somit, Unmengen von Quellmaterial zu studieren und zu bewerten. Basierend darauf wird festgelegt, welche Ideen in welcher Abfolge in Normen umgemünzt werden können.  

Welche Themen liegen aktuell auf dem Tisch?
Ein Beispiel ist die methodische Frage wie man mit der Terminologie umgeht. Soll dafür eine eigene Norm geschaffen werden oder wird diese zukünftig bei jeder Norm hinzugefügt? Ein weiteres Beispiel ist die Integration von sozialen Aspekten im Finanzwesen. Trotz der scharfen nationalen oder internationalen Regulierungen wird dieser Dimension zu wenig Beachtung geschenkt. «Der Finanzbereich ist aktuell zu maximierungslastig und nicht auf Optimierung ausgelegt. ISO engagiert sich dafür, dass sich die ökonomische Tätigkeit und die soziale Verantwortung nicht gegenseitig ausschliessen», betont Franz Knecht.

Wie integriert man gesellschaftliche Aspekte?
Verständlich wird das, wenn man konkretisiert, was unter Finanzprodukten gemeint ist. «Das kann mit einer einfachen Kreditkarte beginnen, über ein traditionelles Sparkonto bis hin zu Firmenkrediten, Anlageprodukten oder Blockchain-Technologien gehen. Erhalten Produkte und Dienstleistungen in diesem Bereich zukünftig das Label ‘nachhaltig’ aufgedruckt, müssen sie diesem Versprechen auch nachkommen. Und zwar bei der Entwicklung, der Implementierung und der Vermarktung des Produktes», betont Franz Knecht. Dazu gehört beispielsweise beim Sparkonto, dass die Kostenstruktur fair gestaltet oder die Zinsgestaltung transparent kommuniziert wird. Ein weiterer Aspekt ist das «Kenne-deinen-Kunden-Prinzip», das in der Schweiz und in vielen Ländern auch in der Gesetzgebung verankert ist. Ein Finanzinstitut soll plakativ gesprochen wissen, von woher Gelder kommen und wohin sie fliessen. Stammen Gelder aus kriminellen Geschäften – zum Beispiel Drogenhandel? Werden Gelder an Institutionen vergeben, die eine Schattenwirtschaft betreiben – zum Beispiel Mafia? Ein komplexes Thema dabei ist, wie das Monitoring für solche Abläufe funktioniert und somit das Finanzinstitut erst glaubwürdig agiert. Was wir als Greenwashing kennen, gibt es auch im sozialen Bereich unter dem Namen Bluewashing. Firmen werden heute mehr in die Verantwortung genommen und die Kundschaft hat die Macht über jeden Einkauf.

Wie entsteht aus einem Thema eine Norm?
«In der Arbeitsgruppe stecken wir den Zielbereich fest, der aufgrund unserer Analyse am meisten Sinn macht und so den identifizierten Bedürfnissen optimal entspricht», führt Franz Knecht aus. «In unserem weltweiten Netzwerk prüfen wir, wie anwenderfreundlich dieser Lösungsansatz für die operativen Teilnehmenden ist. Meistert der gewählte Ansatz diese Hürde, sind wir bereit für die Präsentation vor dem TC.» Das Technische Komitee beurteilt Themenvorschläge und gleicht diese mit ihrem Business Plan ab. Passt sich das Thema harmonisch in den Plan ein, erfolgt die Abstimmung und bei Freigabe die Bildung der neuen Arbeitsgruppe, die die Norm konkret ausarbeitet.

Worin liegt der Mehrwert von Normen für Sustainable Finance?
«Dass wir ehrlich gesagt alle vom Gleichen reden. Wenn in einer Tafel Schokolade nur 25 % Kakao und dafür 75 % Zucker drin sind, dann ist das so, aber dann sollen Konsumentinnen und Konsumenten – d. h. in unserem Fall Sparer oder Anlegerinnen – das auch nachvollziehen können und basierend darauf den Kaufentscheid fällen», zieht Franz Knecht die Parallele zu nachhaltigen Anlageprodukten. Nebst der Deklaration der Produkte wird je länger, je mehr auch entscheidend sein, was mit persönlichen Daten geschieht. Neue Technologie wie Blockchain und erst recht die Anwendung von Künstlicher Intelligenz stellen uns vor unbekannte Herausforderungen. «Aktuell sind wir noch weit davon entfernt, breitflächig über Methoden, Transparenz und Klarheit zu verfügen, um überall ESG-Kriterien anwenden zu können, geschweigen denn, ihnen zu entsprechen.» Es scheint, als ob der ad-hoc-Gruppe die Arbeit noch lange nicht ausgehen wird.

Steckbrief ISO/TC322

Gegründet: 2018
Standards: 2 publiziert, 1 in Bearbeitung
Members: 25 partizipierende, 17 beobachtende
Mehr Informationen zu ISO/TC322
Broschüre «Green and Sustainable Finance» von ISO

Franz Knecht

Er ist SNV-Delegierter für TC 207 & TC 322. Der studierte Rechtswissenschaftler bringt langjährige Erfahrung (seit 1991) aus dem Bereich Finanzwesen und Nachhaltigkeit mit. Seit 1999 ist er unabhängiger internationaler Berater für die Finanzwirtschaft, Industrie und Dienstleistungsunternehmen sowie für internationale Organisationen (UNEP FI, Weltbank, Entwicklungsbanken). Er war Mitglied des Verwaltungsrates einer SRI Rating Agentur sowie Mitglied mehrerer technischer Beiräte zum Thema Socially Responsible Investing. In seiner früheren Tätigkeit bildete er sich früh auf ISO 14001 aus und bereitete intern die entsprechenden Zertifizierungsaudits vor. Bereits 1991 war er Nachhaltigkeitsbeauftragter des damaligen Bankvereins und mitverantwortlich für den Launch des ersten Umweltfonds seines Arbeitgebers. Zur ISO-Normungsarbeit kam er per Zufall, als er vor knapp zehn Jahren während eines Aufenthaltes in Stockholm auf der Webseite der Schweizer Botschaft einen Link zu einem neuen ISO-Projekt entdeckte – man suchte noch Experten zur Mitarbeit.

Franz Knecht ist SNV-Delegierter für TC 207 & TC 322. Er bringt langjährige Erfahrung aus dem Bereich Finanzwesen und Nachhaltigkeit mit. Bereits 1991 war er Nachhaltigkeitsbeauftragter des damaligen Bankvereins und mitverantwortlich für den Launch des ersten Umweltfonds seines Arbeitgebers.

Franz Knecht ist SNV-Delegierter für TC 207 & TC 322. Er bringt langjährige Erfahrung aus dem Bereich Finanzwesen und Nachhaltigkeit mit. Bereits 1991 war er Nachhaltigkeitsbeauftragter des damaligen Bankvereins und mitverantwortlich für den Launch des ersten Umweltfonds seines Arbeitgebers.

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